Michelle kam mit ihrer Mutter zu mir, weil sie sich häufig kraftlos, leer und erschöpft fühlte. Am liebsten würde sie das Haus gar nicht mehr verlassen – weder, um
in die Schule zu gehen, noch, um Freundinnen oder Verwandte zu besuchen. Sehr häufig bekomme sie Heimweh und müsse dann abgeholt werden.
Für mich wurde recht schnell deutlich, dass Michelles Problem nicht ihr eigenes war, sondern dass sie etwas von Vorfahren übernommen haben muss. Darauf wies für
mich bereits ihre Beschreibung hin, dass sie sich häufig kraftlos, leer und erschöpft fühle. Dies sind meiner Erfahrung nach sehr typische Symptome, wenn verstorbene Vorfahren - energetisch
gesehen - noch an uns „kleben“. Wenn dies der Fall ist, fehlt häufig die Lebensfreude. Man hat das Gefühl, wie in Watte gepackt oder in einer Wolke zu leben – als ob eine unsichtbare Macht einen
ausbremst und davon abhält, wirklich lebendig zu sein. Man lebt so vor sich hin; mit dem ständigen Gefühl, irgendwie fremdbestimmt zu sein.
Michelle äußerte auf meine Fragen hin sehr besondere Gedanken über den Tod. Sie sagte zum Beispiel, sie fände es schöner, wenn sie eines Tages vor der Mama sterben würde. Warum sie sich das
wünscht, konnte sie nicht beantworten. Sie fände den Gedanken einfach schön. Gleichzeitig sagte Michelle, dass sie Angst habe, morgens nicht mehr aufzuwachen und dann ihre Mama nicht
wiederzusehen.
Im Familienstammbaum war über Michelle, sozusagen in senkrechter Linie, Gertrud gezeichnet. Daher fragte ich direkt nach Gertrud. Gertrud
starb 1945 im Alter von fast sechs Jahren bei einem Bombenangriff; zusammen mit ihrer Oma (also mit der Uroma von Michelle). Beide waren auf dem Weg
irgendwohin – wir konnten nicht mehr gesichert in Erfahrung bringen, ob sie auf dem Weg zum Kindergarten, Verwandten oder Freunden waren. Jedenfalls hatten
beide das Haus verlassen und kehrten nie wieder zurück. Und Gertrud starb vor ihrer eigenen Mutter (vgl. Michelles Wunsch oben).
Während wir so sprachen und die Zusammenhänge aufdeckten, kullerten bei Michelle ein paar Tränen über die Wange, wenngleich sie selbst nicht benennen konnte, warum sie die Geschichte von Gertrud
so bewegte – schließlich ereignete sich das Drama 64 Jahre vor ihrer eigenen Geburt. Sie meinte, sie wisse nicht, warum, aber sie hätte diese Gertrud gerne kennen gelernt.
Als Hausaufgabe trug ich Michelle auf, einen Brief an Gertrud zu schreiben. Im Telefonat mit Michelles Mutter einige Wochen nach diesem Termin erzählte diese mir, dass Michelle am gleichen Abend
nach unserem Gespräch bitterlich geweint habe. Die Mutter hatte das Gefühl, dass das nicht ihre, also Michelles, Tränen seien, sondern Tränen von oder für Gertrud. Mittlerweile habe sie sogar
schon auswärts übernachtet – und musste nicht, wie sonst immer, nach Hause geholt werden. Ihre Mutter sagte, sie habe insgesamt das Gefühl, dass Michelle "anders" sei, viel positiver und
entspannter.